Einleitung

1 Einleitung

Soziale Netzwerke durchziehen jeden Bereich des Zusammenlebens in modernen Gesellschaften1. Ständig sind die Akteure Einflüssen aus ihrem sozialen Umfeld ausgesetzt. Selbst Kontakte dritten Grades, das sind Kontakte der Kontakte der Kontakte eines Akteurs, also ihm völlig Unbekannte, üben noch einen gewissen Einfluss aus (vgl. Fowler & Christakis 2008)⁠. Entwicklungen wie das Internet erleichtern es zudem in dieser „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2005: 10)⁠ überregionale, interpersonelle Netzwerke zu knüpfen. Im beruflichen und privaten Umfeld bildet die Stellung eines Akteurs in Netzwerken die Grundlage für den Erfolg oder Misserfolg bei seinen Unternehmungen. Das Einkaufen im Internet (vgl. Salganik, Dodds & Watts 2006)⁠, die Suche nach Job- und Geschäftspartnern (vgl. Granovetter 1973)⁠ oder private Partnersuche (vgl. Christakis & Fowler 2010: 90 ff.)⁠ sind nur einige Bereiche in denen Netzwerke und ihr Einfluss auf die Entscheidung des Einzelnen auszumachen sind (vgl. Holzer 2006: 5 ff.)⁠. Organisierte Kriminalität (vgl. Glaeser, Sacerdote & Scheinkman 1996)⁠, Betrug auf Online-Auktionsplattformen (vgl. Wang & Chiu 2008)⁠ oder Suchmaschinen-Spam sind weitere Bereiche in denen mit den Mitteln der Netzwerkanalyse Erkenntnisse gewonnen und erhebliche Schäden vermieden werden können.

Internetdienste werden bereits von ca. zwei Milliarden Menschen benutzt (vgl. ITU 2010)⁠. Insbesondere finden dabei die textbasierten Medien wie E-Mail, Diskussionsforum, Wiki, Chat, Instant Messaging und seit einiger Zeit verstärkt genutzte sogenannte2 „social Communities wie StudiVZ, FaceBook, MySpace oder Xing“ (Kleimann, Özkilic & Göcks 2008: 5)⁠ Verwendung. Die breite Nutzung digitaler Medien eröffnet für die Forschung neue Möglichkeiten und erlaubt einen enorm großen, maschinell erfassbaren Datenbestand auszuwerten. Jenseits von Kleingruppen und lokal beschränkten Gemeinschaften lässt sich nun ein präziseres Bild der Kommunikationsabläufe aufzeigen. Jedoch bringt jedes Medium spezifische Eigenschaften, beispielsweise mediale Reichhaltigkeit, mit sich (vgl. Daft & Lengel 1984)⁠. Ein Forschungsaspekt hierbei sind die Kommunikationsstrukturen, die durch Informationsaustausch und Kommunikation zwischen den Akteuren entstehen.

1.1 Untersuchungsgegenstand

Bei interpersoneller Individualkommunikation z. B. mittels Brief, Telefon und face-to-face3 (ftf) entstehen Netzwerke, über welche der Informationsfluss stattfindet. Computervermittelte Kommunikation, z. B. mittels E-Mail, VoIP und Video-Konferenzen, ist ebenso Bestandteil dieser Individualkommunikation. Wird eine Anfrage eines Individuums von einem anderen beantwortet, zu dem bisher kein Kontakt bestand, entsteht eine neue Verbindung im Netzwerk. Über diese können zukünftig Informationen verbreitet und andere Ressourcen abgerufen werden. Die Entstehung dieser virtuellen sozialen Kontaktnetzwerke, Dynamik und die Simulation der Strukturen bilden den Untersuchungsgegenstand dieses Buches.

Anhand folgender Fragen wird der Untersuchungsgegenstand beleuchtet:

(F1): Welche Mechanismen wirken bei der Entstehung und Entwicklung von virtuellen sozialen Netzwerken?

(F1.1): Unter welchen Bedingungen findet die Kommunikation statt?

(F1.2): Welche Einflüsse wirken auf die Struktur der Netzwerke?

(F2): Welche Eigenschaften weisen Strukturen virtueller sozialer Netzwerke auf?

(F2.1): Anhand welcher Kennzahlen können die strukturellen Eigenschaften virtueller sozialer Netzwerke beschrieben werden?

(F2.2): In welchen Bereichen liegen die Kennzahlen und welche sonstigen Struktureigenschaften weisen soziale virtuelle Netzwerke auf?

(F3): Wie können soziale virtuelle Netzwerke simuliert werden?

(F3.1): Wie ausreichend sind bisherige Simulationsmodelle und die dabei angewendeten Vorgehensweisen?

(F3.2): Können die Simulationsergebnisse durch Modifikationen verbessert werden?

(F4): Welche Prozesse müssen Modelle berücksichtigen?

Um den ersten und zweiten Fragenbereich zu beantworten, wird zunächst auf computervermittelte Kommunikation und Medien eingegangen. Dabei erfolgt die Einordnung der untersuchten Medien in den theoretischen Kontext. Anschließend werden das Paradigma der strukturellen Analyse sowie zentrale Kennzahlen zur Beschreibung der Struktureigenschaften besprochen. Ansätze zur Erklärung der Dynamik aus der Akteur- und Netzwerkperspektive schließen sich dem an.

Darauf aufbauend werden Studien zu virtuellen sozialen Netzwerken, welche durch diverse Formen asynchroner und synchroner computervermittelter Kommunikation entstanden sind, ausgewertet. Um der Frage nach der Vergleichbarkeit nachzugehen, werden deren Eigenschaften gegenübergestellt. Hierbei wird das zuvor besprochene Paradigma der strukturellen Analyse nach Wellman angewendet (vgl. Wellman 1988: 20)⁠. Die soziodemographischen Attribute der Individuen wie Alter und Geschlecht werden also nicht betrachtet. Auf die Qualität der einzelnen Relationen sowie auf die Inhalte der Kommunikation wird ebenfalls nicht eingegangen.

Um den dritten Fragenbereich (F3) zu beantworten, werden Simulationsmodelle betrachtet, den zuvor besprochenen Studien entsprechende Netzwerke simuliert und anschließend die Modelle anhand der ermittelten Kennzahlen evaluiert. Außerdem wird das jeweilige Vorgehen mit den Prozessen verglichen, die in virtuellen sozialen Netzwerken auftreten. In einer umfassenden Diskussion am Ende des Buches werden die Ergebnisse zusammengefasst und der vierte Fragenbereich (F4) beantwortet.

1Auf www.socialvirtuality.com wird dieses Buch in regelmäßigen Abständen kapitelweise frei zugänglich gemacht. Sie können dort auch Hinweise, Kommentare und Anmerkungen zu den einzelnen Teilen hinterlassen und über das Thema diskutieren.

2Durch andere Autoren auch als „social networking services“ bezeichnet (vgl. Ahn u. a. 2007: 835)

3Face-to-face bezeichnet die direkte, räumlich sehr nahe Kommunikation.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Hallo Welt!

Social Network Analysis (SNA), Computer Supported Colaborative Work (CSCW), Computer Suported Colaborative Learning (CSCL). Das sind die Themen, die mich bewegen. In der Kategorie „SocialVirtuality – Das Buch“ werde ich zukünftig das Buch zur Analyse und Simulation von sozialen virtuellen … Weiterlesen

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Prominenz

3.1.1 Prominenz

Bei Prominenz handelt es sich um ein Konzept, bei dem die Attraktivität eines Akteurs innerhalb des Netzwerkes mit der Zunahme seiner Kontakte steigt. Andere Akteure bauen bevorzugt mit diesem Kontakte auf. Das Phänomen lässt sich empirisch unter anderem in Zitationsnetzwerken beobachten. So stellte Price (1965)⁠ fest, dass die Zitationen nicht binominal verteilt sind, wie es bei einem Zufallsnetzwerk der Fall wäre. Stattdessen ist die Verteilung höchst ungleich. Ein Großteil der Wissenschaftler wird sehr selten zitiert, einige wenige hingegen extrem häufig. Das Phänomen lässt sich in vielen Netzwerken wie der Verlinkung im WWW aber auch eingeschränkt in virtuellen sozialen Netzwerken mit reduzierten kognitiven Schranken1 beobachten (vgl. Kap. 5). Darauf aufbauend entwickelten Barabasi und Albert (1999)⁠ ein stochastisches, wachsendes Modell des „preferential attachment“2, um diese Struktureigenschaft sozialer Netzwerke zu simulieren. Eine weitere Ausprägung der Prominenz wird aktuell bei der Sortierung der Suchergebnisse einer dominanten Suchmaschine verwendet. Bei dem Google PageRank ist nicht die reine Anzahl von Kontakten für die Attraktivität eines Akteurs entscheidend, sondern die Qualität3 dieser Kontakte. Die Qualität ergibt sich aus der Anzahl der Kontakte des Kontaktes. Ein prominenter Akteur braucht demnach nicht zwangsläufig selbst sehr viele Kontakte, sondern lediglich eine beschränkte Anzahl dieser zu Akteuren, welche wiederum selbst gut vernetzt sind, d. h. viele oder qualitativ hochwertige Kontakte besitzen (vgl. Brin & Page 1998)⁠.

Das Verfahren ermöglicht es sogar zukünftige Prominenz, wie z. B. die Verleihung des Nobelpreises, mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit vorherzusagen. Dies haben Maslov und Redner (2008)⁠ in ihrer Analyse eines Zitationsnetzwerkes aus dem Bereich Physik nachgewiesen.

1Aufgrund computergestützter Verwaltung der Kontakte und Effekte von computervermittelter Kommunikation sind Aufbau und Aufrechterhaltung von größeren Netzwerken einfacher und weniger zeitaufwendig. Die kognitive Schranke des menschlichen Gehirns liegt bei durchschnittlich nur 150 Individuen (vgl. Dunbar 1993). Das ist „[…] die Höchstzahl der Menschen, die wir noch erkennen und zu denen wir eine Beziehung unterhalten können, »an die wir nach einer längeren Phase der Abwesenheit wieder anknüpfen können, ohne uns erklären zu müssen«“ (Christakis & Fowler 2010: 316).

2Im Verlauf dieser Arbeit wird das Modell einer ausgiebigen Prüfung unterzogen und variiert.

3Qualität ist hier nicht im Sinne von Stärke nach Wasserman und Faust (2007: 142)⁠ gemeint.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Akteurorientierte Phänomene

3.1 Akteurorientierte Phänomene

Bei der Entstehung und Veränderung von Netzwerken treten Phänomene auf, die an dieser Stelle aus einer akteurorientierten Perspektive näher betrachtet werden. Dabei wird auf Prominenz, Einfluss und Selektion, Cliquenbildung, Reziprozität sowie die Balancetheorie eingegangen.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Dynamik in Netzwerken

3. Dynamik in Netzwerken

Nachdem im vorhergehenden Kapitel auf das mediale Umfeld der Kommunikation eingegangen wurde, geht es nun in der zweiten Teilfrage (F1.2) darum, welche Einflüsse auf die Struktur von Netzwerken wirken und wie Netzwerke in diesem Umfeld entstehen und sich verändern.

„Netzwerke entstehen durch die Wahlentscheidungen und Strategien der sozialen Akteure, seien dies nun Individuen, Familien oder Gruppen. Zur großen Transformation der Soziabilität ist es in komplexen Gesellschaften daher gekommen, als Netzwerke räumliche Gemeinschaften als wesentliche Formen der Soziabilität ersetzt haben.“(Castells 2005: 140)

Medienübergreifendes, ego-zentriertes Netzwerk

Abbildung 3.1: Medienübergreifendes, ego-zentriertes Netzwerk

In der Abbildung 3.1 ist ein ego-zentriertes Netzwerk mit medienspezifischen Verbindungen dargestellt, welches die Nutzung verschiedener Medien durch ein Individuum und die dadurch entstehende Vernetzung illustriert. Ein Individuum nutzt in diesem Beispiel E-Mail, ein Forum sowie Instant Messaging. Seine Kontakte unterhalten jeweils wiederum Kontakte zu anderen Nutzern. Einige verwenden ebenso mehrere Kommunikationsmedien. Ein Akteur ist in allen drei medialen Netzwerken vertreten. Von diesem Akteur sind dem EgoKontaktdaten zur Kommunikation in allen drei Medien bekannt.

Die Individuen können über multiple Identitäten, beispielsweise berufliche, fachliche oder private, innerhalb des jeweiligen Mediums verfügen (vgl. Köhler 2003: 43 f.)⁠, z. B. mehrere, auf den jeweiligen Zweck und Kontext beschränkte E-Mail-Adressen, Foren-Profile, etc. Diese virtuellen Identitäten können neu erzeugt oder aufgegeben werden (vgl. Döring 2003: 354 ff.)⁠, was zu Veränderungen im jeweiligen medialen Netzwerk führt. Ebenso können Netzwerkteilnehmer ihr gesamtes Netzwerk aufgeben oder aus diesem ausscheiden und damit Strukturen und Kommunikation innerhalb der Netzwerke verändern (vgl. Stegbauer 2006a: 60 f.)⁠. Diese und weitere Vorgänge werden im Nachfolgenden betrachtet.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Fazit

2.4 Fazit

Im Umfeld der CviK können Kommunikationsnetzwerke effektiver und effizienter aufgebaut werden. Im Gegensatz zur ftf Kommunikation ist die Anzahl möglicher Kontakte größer und nicht regional beschränkt. Für den Aufbau und die Pflege der Kontaktnetzwerke stehen dem Individuum eine große Bandbreite an Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung, die entsprechend dem kommunikativen Zweck rational, normativ oder interpersonell verwendet werden kann. Medienübergreifend lassen sich folgende Unterschiede zu ftf Kontaktnetzwerken feststellen:

  • Größere, überregionale Kontaktnetzwerke
  • Geringerer Ressourcenbedarf zum Aufbau und zur Pflege von Kontakten
  • Kommunikationszweck-optimierte Ressourcenverwendung
  • Geringere Hürden (Hemmungen, etc.) beim Aufbau neuer Beziehungen.
  • Geringere soziale Kontrolle und Sanktionsmöglichkeiten
  • Qualitativ vergleichbare Relationen (vgl. Castells 2005: 135)

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Mediale Einordnung

2.3 Mediale Einordnung

Im späteren Verlauf der Arbeit werden Netzwerke betrachtet, welche durch die Verwendung verschiedener Medien oder Dienste entstehen. An dieser Stelle wird eine mediale Einordnung und Subsumierung unter die zuvor besprochenen Theorien vorgenommen.

E-Mail ist ein asynchrones, textbasiertes Medium. Damit kann in Dyaden als auch in Gruppen1 kommuniziert werden (vgl. Bell u. a. 2003: 181f.)⁠. Bei diesem Medium greifen alle besprochenen Theorien. Die Kommunikationspartner wählen das Medium, wobei dies einseitig geschehen kann. Anonyme Kommunikation zwischen Unbekannten ist ebenso möglich, da bei einer E-Mail-Adresse die eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Kommunikationsteilnehmer nicht zwangsläufig gegeben ist. Dies ist die Ausgangsbedingung für die Filtertheorien und SIDE.

Ein Forum (discussion board) ist ebenfalls ein asynchrones und textbasiertes Medium. Im Gegensatz zu dem Medium E-Mail sind die Rezipienten in der Regel unbekannt, da solche Systeme in der Regel ohne Anmeldung Lesezugriffe gewähren und die Beiträge in Suchmaschinen indexiert werden (vgl. Bell u. a. 2003: 13)⁠. Sie stehen damit einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung. Um Beiträge und Kommentare zu erstellen, müssen sich die Nutzer jedoch anmelden. Hierbei können auch falsche Angaben gemacht werden. Die Authentizität der Nutzer ist nicht sichergestellt. Aufgrund von Verhaltensregeln und Moderation ist hierbei auch SIDE anwendbar. Damit greifen ebenfalls alle angeführten Theorien.

Bei Blogs können neben Textbeiträgen auch multimediale Inhalte wie Fotos oder Videos eingebunden werden. Ein Blog ist ein asynchrones Medium, bei dem über Kommentare zu den Beiträgen Feedback gegeben wird. Diese Kommentare können ebenso Verweise (Links) auf andere, ggf. multimediale Inhalte enthalten. Es bedarf in der Regel keiner Anmeldung, um einen Blog-Beitrag zu lesen (vgl. Bell u. a. 2003: 10)⁠. Die Authentizität derNutzer ist nicht zweifelsfrei gegeben und die Nutzung kann anonym erfolgen. Da sich die Kommunikation an eine breite Öffentlichkeit richtet und nicht gruppenorientiert ist, greift SIDE bei Blogs nicht. Die Filtertheorien können uneingeschränkt angewandt werden.

Ein Instant Messaging System ist ein synchrones Medium (vgl. Tipp 2008: 175)⁠. Zwar ist Gruppenkommunikation i. d. R. möglich, jedoch überwiegt die Kommunikation mit zwei Teilnehmern (vgl. Leskovec & Horvitz 2008)⁠. Das Medium bietet die Möglichkeit zur textbasierten Kommunikation, ist aber nicht auf diese beschränkt2 (vgl. Bell u. a. 2003: 119)⁠. Die Filtertheorien sind nur bei der Textform voll anwendbar. Ebenso verhält es sich mit SIDE, da ein geringeres Maß an Anonymität vorhanden sein kann.

Bei „Social Community“ werden synchrone und asynchrone Kommunikationsmöglichkeiten vermischt. In Abhängigkeit vom Funktionsumfang kann sowohl asynchron, synchron, textbasiert oder multimedial in Dyaden und Gruppen kommuniziert werden. Betrachtet man nur die Eigenschaften Textbasiertheit und Asynchronität, so greifen alle bisher besprochenen Theorien. Tritt ein Individuum einem Netzwerk bei, ist die Kommunikation zwischen Unbekannten als Ausgangsbedingung für die Filtertheorien und SIDE gegeben. Auf die Diskussion in Gruppen lässt sich SIDE ebenfalls anwenden.

1Hierfür werden Mailing-Listen bzw. Verteiler verwendet oder mehrere Empfänger angegeben.

2Die aufgeführten Studien beziehen sich auf Instant Messaging Systeme ohne die Möglichkeit zur Sprach- und Videoübertragung. Gegenwärtig ist dies mit Skype (www.skype.com) aber auch ICQ (www.icq.com) u. a. möglich.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Deindividuation

2.2.3 Deindividuation

Auf der Theorie der Kanalreduktion und den Filtertheorien baut das sozialpsychologische Social Identity Deindividuation Modell der Gruppenpolarisation (SIDE) von Spears und Lea auf (vgl. Spears & Lea 1992: 45 ff.)⁠. Das Modell zeigt die Schritte des Deindividualisierungsprozesses, nach dem zunächst von physischer Isolation während des Kommunikationsvorganges ausgegangen wird. Dies führt zu visueller Anonymität und erhöhter Selbstaufmerksamkeit. Anschließend wird in Abhängigkeit vom Kontext die persönliche oder soziale Identität salient1. Überwiegt situationsbezogen die soziale Identität, steigt die Bedeutung der Kontextgruppe, bei persönlicher Identität, die des Benutzers selbst. Dies entscheidet über die Annahme und das Festhalten an Gruppennormen oder individuellen Normen. Dieser Ablauf wird in der folgenden Abbildung 2.2.1 dargestellt.

Abbildung 2.2.1: Social Identity Deindividuation (SIDE) nach Spears und Lea (1992: 53); Übersetzung nach Köhler (2003: 46)

Die Kanalreduktion, fehlende soziale Hintergrundinformationen und Anonymität machen es dem Individuum einfacher sich der Gruppe zugehörig zu fühlen. Viele individuelle Besonderheiten der Gruppenmitglieder sind nicht sichtbar, wodurch Unterschiede nicht deutlich werden und die Gruppe als homogen erscheint. Eigene Besonderheiten geraten deshalb auch nicht in Konflikt mit den Besonderheiten der anderen Gruppenmitglieder, was die Identifikation mit der Gruppe erleichtert. Die Gruppennormen werden auch nicht aufgrund von Gruppendruck akzeptiert und angenommen. Dies erfolgt aus dem Bedürfnis heraus, sich zu der Gruppe zugehörig zu fühlen und sich entsprechend der kollektiven Identität konform zu verhalten (vgl. Döring 2003: 174)⁠.

Die gleichen Ursachen führen aber auch zum gegenteiligen Effekt. Wird die personale Identität salient, so erschweren die Anonymität und die fehlenden Hintergrundinformationen über die Gruppenmitglieder das situationsbezogene Auffinden möglicher Gemeinsamkeiten (vgl. Döring 2003: 175)⁠.

Bei einer Diskussion übt die saliente Identität ebenfalls Einfluss auf die Haltung der Kommunikationsteilnehmer aus. Ist die Gruppenidentität salient, so folgt die Meinung besonders ausgeprägt der Gruppennorm. Bei salienter individueller Identität weicht diese besonders ausgeprägt von der Gruppennorm ab (vgl. Spears, Lea & Lee 1990)⁠.

Mit SIDE lassen sich Phänomene, die bei den Filtertheorien (vgl. Kap. 2.2.2) auftreten, erklären. Das positive, sozial erwünschte Verhalten tritt dann auf, wenn die Gruppe für den hinzukommenden Kommunikationsteilnehmer an Bedeutung gewinnt, dieser also die Gruppennormen annimmt und an ihnen festhält. Diese Normen können bei der CviK in einer virtuellen Gruppe bzw. Gemeinschaft, z. B. einem Forum, durch die Nutzungsbedingungen oder Netiquette2 festgelegt werden. Ein Verstoß gegen diese Normen kann mit einer vorübergehenden Sperre oder einem Ausschluss geahndet werden. Ist die Salienz der Gruppe verringert, so sind die Konsequenzen nicht bedeutsam und werden billigend in Kauf genommen.

Kritisch kann der Umstand betrachtet werden, dass bei SIDE, wie ebenfalls bei den Filtertheorien, von unbekannten Kommunikationsteilnehmern ausgegangen wird. Kommt es zu CviK durch einen Medienwechsel, sind die Hintergrundinformationen präsent und üben Einfluss auf die Kommunikation aus. Weiterhin wird das Erlangen von Hintergrundinformationen durch die Kommunikation über einen längeren Zeitraum hinweg ebenfalls nicht berücksichtigt.

Anzumerken ist, dass das SIDE Modell nicht nur zur Erklärung von Phänomenen bei der CviK, sondern auch außerhalb der Netzforschung bei Untersuchungen zur Gruppenaggressivität, Anwendung findet. (vgl. Stroebe u. a. 2002: 377)⁠.

1Salienz ist ein sozialpsychologischer Fachbegriff und bedeutet soviel wie Hervorgehobenheit bzw. Aufmerksamkeit lenkende Präsenz (vgl. Wiswede u. a. 2004: 470)⁠.

2Dies ist eine Wortneubildung aus Netz und Etikette und bezeichnet Verhaltensregeln innerhalb der Kommunikationsplattform (vgl. Bell u. a. 2003: 137f.)⁠.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Filtertheorien

2.2.2 Filtertheorien

Die Filtertheorien greifen die Kritik an textbasierten Kommunikationsmedien durch die Kanalreduktion auf. Die Theorien „cues-filtered-out approaches“ (vgl. Culnan & Markus 1987)⁠ und „reduced social cues approach“ (RSC) (vgl. Kiesler, Siegel & Timothy 1988)⁠ weisen jedoch auf die entstehenden positiven Aspekte hin. So sind durch die Entkontextualisierung wenig bis keine soziodemographischen Hintergrundinformationen über die Kommunikationsteilnehmer vorhanden. Diese werden in alltäglichen Situationen dafür verwendet, um Personen auf den ersten Blick einzuschätzen. Der erste Eindruck kann jedoch entscheidend für das Zustandekommen der Kommunikation sein.

Um die Kanalreduktion zu kompensieren, werden bei der textvermittelten CviK übertragene Hinweisreize gefiltert und diesen wenigen Reizen eine erhöhte Bedeutung zugesprochen. Das führt einerseits zur erhöhten Aufmerksamkeit bezüglich der Selbstdarstellung, andererseits zur stärkeren Gewichtung der Kommunikationsinhalte. Dadurch können Aussagen fehlinterpretiert werden, wenn diese außerhalb des Kontextes von Stimme, Tonfall und Gestik stehen. Jedoch können auch aufgrund der erhöhten Aufmerksamkeit Metanachrichten, die „zwischen den Zeilen“ stehen, ggf. bei nochmaligem Lesen herausinterpretiert werden.

Bei der textvermittelten CviK ist eine scheinbare anonyme und pseudonyme Kommunikation möglich. Dabei tritt hinsichtlich sozialer Hintergrundvariablen ein Nivellierungseffekt auf: Weder materielle Statussymbole, elegante Kleidung oder eine laute Stimme schaffen in diesem Kontext einen Kommunikationsvorteil. Aufgrund der Anonymität und dieser Nivellierung werden Hemmungen, Hürden, Privilegien und Kontrollen abgebaut. Das führt zu positiven und negativen Effekten. Einerseits kommt es zu verstärkter Offenheit, Ehrlichkeit und Anteilnahme. Besonders in Konfliktsituationen kommt es aber andererseits zu offenen Feindseligkeiten sowie zu normverletzendem und antisozialem Verhalten. Die Unverbindlichkeit der Kommunikation und die scheinbar nicht vorhandenen, alltagsbezogenen Sanktionsmöglichkeiten steigern die Emotionalität und Offenheit der Aussagen, was jedoch nicht netzspezifisch sein muss, da sich genügend Beispiele, wie bei der Telefonseelsorge, auch bei nicht CviK finden lassen (vgl. Döring 2003: 155 f.)⁠. Aggressives Verhalten, z. B. in der Form von persönlichen, beleidigenden Beiträgen, wird ebenfalls begünstigt.

Durch die Filtertheorien wird der Standpunkt vertreten, dass die CviK nicht pauschal defizitär ist, sondern sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt. Jedoch teilen sie mit der Theorie der Kanalreduktion die technikdeterministische Sichtweise auf die CviK-Effekte. Der moderierende und regulierende Einfluss von sozialen Systemen wird dabei ebenfalls vernachlässigt. Die Filtertheorien gehen tendenziell von der CviK zwischen Unbekannten aus. Bereits bestehende Kontakte, mit welchen aufgrund eines Medienwechsels nun computervermittelt kommuniziert wird, bleiben unberücksichtigt. Ebenfalls nicht einbezogen werden die aktuellen Kommunikationsmöglichkeiten, welche zur Entstehungszeit der Theorien noch nicht vorhanden waren.

Kaiser, A. (2011): Social Virtuality – Strukturen, Dynamik, Analyse und Simulation in sozialen virtuellen Netzwerken (1. Aufl.). Herzogenrath: Shaker Verlag

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Netzwerke und Arbeitsmarkt

Herbsttagung der Sektion Soziologische Netzwerkforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Termin

8. und 9. September 2011

Ort

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Findelgasse 7/9, 90402 Nürnberg. Räume FG 0.015 und 0.016; kleiner und großer Audimax.

Abstract

So unumstritten die Frage ist, dass Netzwerke eine wichtige Rolle für Arbeitsmarktprozesse spielen, so wenig ist geklärt, wie sie wirken und ob und wie stark Personen davon profitieren, wenn sie Netzwerke nutzen. Solche Fragen sind für eine ganze Reihe von sozialwissenschaftlichen Disziplinen und die Arbeitsmarktpolitik relevant. Die Tagung versucht den aktuellen Forschungsstand zu sichten und zu diskutieren sowie Forschungsbedarfe zu identifizieren.

Zusatzinformationen

Partner

Lehrstuhl für Soziologie und Empirische Sozialforschung, Schwerpunkt Arbeitsmarktsoziologie

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