1 Einleitung
Soziale Netzwerke durchziehen jeden Bereich des Zusammenlebens in modernen Gesellschaften1. Ständig sind die Akteure Einflüssen aus ihrem sozialen Umfeld ausgesetzt. Selbst Kontakte dritten Grades, das sind Kontakte der Kontakte der Kontakte eines Akteurs, also ihm völlig Unbekannte, üben noch einen gewissen Einfluss aus (vgl. Fowler & Christakis 2008). Entwicklungen wie das Internet erleichtern es zudem in dieser „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2005: 10) überregionale, interpersonelle Netzwerke zu knüpfen. Im beruflichen und privaten Umfeld bildet die Stellung eines Akteurs in Netzwerken die Grundlage für den Erfolg oder Misserfolg bei seinen Unternehmungen. Das Einkaufen im Internet (vgl. Salganik, Dodds & Watts 2006), die Suche nach Job- und Geschäftspartnern (vgl. Granovetter 1973) oder private Partnersuche (vgl. Christakis & Fowler 2010: 90 ff.) sind nur einige Bereiche in denen Netzwerke und ihr Einfluss auf die Entscheidung des Einzelnen auszumachen sind (vgl. Holzer 2006: 5 ff.). Organisierte Kriminalität (vgl. Glaeser, Sacerdote & Scheinkman 1996), Betrug auf Online-Auktionsplattformen (vgl. Wang & Chiu 2008) oder Suchmaschinen-Spam sind weitere Bereiche in denen mit den Mitteln der Netzwerkanalyse Erkenntnisse gewonnen und erhebliche Schäden vermieden werden können.
Internetdienste werden bereits von ca. zwei Milliarden Menschen benutzt (vgl. ITU 2010). Insbesondere finden dabei die textbasierten Medien wie E-Mail, Diskussionsforum, Wiki, Chat, Instant Messaging und seit einiger Zeit verstärkt genutzte sogenannte2 „social Communities wie StudiVZ, FaceBook, MySpace oder Xing“ (Kleimann, Özkilic & Göcks 2008: 5) Verwendung. Die breite Nutzung digitaler Medien eröffnet für die Forschung neue Möglichkeiten und erlaubt einen enorm großen, maschinell erfassbaren Datenbestand auszuwerten. Jenseits von Kleingruppen und lokal beschränkten Gemeinschaften lässt sich nun ein präziseres Bild der Kommunikationsabläufe aufzeigen. Jedoch bringt jedes Medium spezifische Eigenschaften, beispielsweise mediale Reichhaltigkeit, mit sich (vgl. Daft & Lengel 1984). Ein Forschungsaspekt hierbei sind die Kommunikationsstrukturen, die durch Informationsaustausch und Kommunikation zwischen den Akteuren entstehen.
1.1 Untersuchungsgegenstand
Bei interpersoneller Individualkommunikation z. B. mittels Brief, Telefon und face-to-face3 (ftf) entstehen Netzwerke, über welche der Informationsfluss stattfindet. Computervermittelte Kommunikation, z. B. mittels E-Mail, VoIP und Video-Konferenzen, ist ebenso Bestandteil dieser Individualkommunikation. Wird eine Anfrage eines Individuums von einem anderen beantwortet, zu dem bisher kein Kontakt bestand, entsteht eine neue Verbindung im Netzwerk. Über diese können zukünftig Informationen verbreitet und andere Ressourcen abgerufen werden. Die Entstehung dieser virtuellen sozialen Kontaktnetzwerke, Dynamik und die Simulation der Strukturen bilden den Untersuchungsgegenstand dieses Buches.
Anhand folgender Fragen wird der Untersuchungsgegenstand beleuchtet:
(F1): Welche Mechanismen wirken bei der Entstehung und Entwicklung von virtuellen sozialen Netzwerken?
(F1.1): Unter welchen Bedingungen findet die Kommunikation statt?
(F1.2): Welche Einflüsse wirken auf die Struktur der Netzwerke?
(F2): Welche Eigenschaften weisen Strukturen virtueller sozialer Netzwerke auf?
(F2.1): Anhand welcher Kennzahlen können die strukturellen Eigenschaften virtueller sozialer Netzwerke beschrieben werden?
(F2.2): In welchen Bereichen liegen die Kennzahlen und welche sonstigen Struktureigenschaften weisen soziale virtuelle Netzwerke auf?
(F3): Wie können soziale virtuelle Netzwerke simuliert werden?
(F3.1): Wie ausreichend sind bisherige Simulationsmodelle und die dabei angewendeten Vorgehensweisen?
(F3.2): Können die Simulationsergebnisse durch Modifikationen verbessert werden?
(F4): Welche Prozesse müssen Modelle berücksichtigen?
Um den ersten und zweiten Fragenbereich zu beantworten, wird zunächst auf computervermittelte Kommunikation und Medien eingegangen. Dabei erfolgt die Einordnung der untersuchten Medien in den theoretischen Kontext. Anschließend werden das Paradigma der strukturellen Analyse sowie zentrale Kennzahlen zur Beschreibung der Struktureigenschaften besprochen. Ansätze zur Erklärung der Dynamik aus der Akteur- und Netzwerkperspektive schließen sich dem an.
Darauf aufbauend werden Studien zu virtuellen sozialen Netzwerken, welche durch diverse Formen asynchroner und synchroner computervermittelter Kommunikation entstanden sind, ausgewertet. Um der Frage nach der Vergleichbarkeit nachzugehen, werden deren Eigenschaften gegenübergestellt. Hierbei wird das zuvor besprochene Paradigma der strukturellen Analyse nach Wellman angewendet (vgl. Wellman 1988: 20). Die soziodemographischen Attribute der Individuen wie Alter und Geschlecht werden also nicht betrachtet. Auf die Qualität der einzelnen Relationen sowie auf die Inhalte der Kommunikation wird ebenfalls nicht eingegangen.
Um den dritten Fragenbereich (F3) zu beantworten, werden Simulationsmodelle betrachtet, den zuvor besprochenen Studien entsprechende Netzwerke simuliert und anschließend die Modelle anhand der ermittelten Kennzahlen evaluiert. Außerdem wird das jeweilige Vorgehen mit den Prozessen verglichen, die in virtuellen sozialen Netzwerken auftreten. In einer umfassenden Diskussion am Ende des Buches werden die Ergebnisse zusammengefasst und der vierte Fragenbereich (F4) beantwortet.
1Auf www.socialvirtuality.com wird dieses Buch in regelmäßigen Abständen kapitelweise frei zugänglich gemacht. Sie können dort auch Hinweise, Kommentare und Anmerkungen zu den einzelnen Teilen hinterlassen und über das Thema diskutieren.
2Durch andere Autoren auch als „social networking services“ bezeichnet (vgl. Ahn u. a. 2007: 835)
3Face-to-face bezeichnet die direkte, räumlich sehr nahe Kommunikation.